Glaubwürdige Wissenschaft

Nicht-Fliegen als ein Selbstexperiment, um besser zu verstehen was Innovation ist

CHRISTOPH KÜFFER IST SENIOR RESEARCHER AM INSTITUT FÜR INTEGRATIVE BIOLOGIE DER ETH ZÜRICH UND PROFESSOR FÜR SIEDLUNGSÖKOLOGIE AN DER OSTSCHWEIZER FACHHOCHSCHULE IN RAPPERSWIL. ER IST NUN IM FÜNFTEN JAHR (FAST) NICHT GEFLOGEN.

Es ist ein Konflikt, den wir alle kennen, der aber besonders Umweltwissenschaftler*innen belastet: Der Flugverkehr ermöglicht es Forschenden, an internationalen Projekten teilzunehmen, um Probleme von Angesicht zu Angesicht zu diskutieren. Gleichzeitig aber er schädigt das Klima und unsere Umwelt. Es ist ein klassisches Dilemma, und seine Lösung erfordert Kreativität und ein kleines Opfer. Ein persönliches Experiment.

NEUGIER IST FÜR MICH SEHR WICHTIG. JEDE VERÄNDERUNG BEREICHERT – ES GIBT NOCH VIELES ZU ENTDECKEN.

Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Auf der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris hat sich die internationale Gemeinschaft zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel verpflichtet. Neue Arten von Glaubwürdigkeit und Fakten werden gefragt sein. Die Wissenschaftler*innen werden daran gemessen werden, ob sie ihren eigenen Forderungen nach radikalen Lösungen nachkommen können. Das Fliegen ist ein gutes Testfeld für diese Frage: Das öffentliche Bewusstsein ist bereits vorhanden, technische Lösungen sind unwahrscheinlich. Flugreisen aufzugeben erfordert Innovationen seitens der wissenschaftlichen Gemeinschaft.

Das laufende Experiment

Ich hatte einen langsamen Start mit dem Fliegen. Bevor ich mein Studium beendete, hatte ich noch nicht einmal einen Fuß in ein Flugzeug gesetzt, noch hatte ich einen Führerschein. Das war damals nichts Ungewöhnliches – jedenfalls nicht für einen Studenten der Umweltwissenschaften.

Fünfzehn Jahre später bin ich mindestens zehnmal um die Welt gereist, um zu arbeiten, bin regelmässig auf andere Kontinente geflogen und ich habe in drei verschiedenen Ländern einen Führerschein. Auch das ist heutzutage nichts Ungewöhnliches, nicht einmal für einen Umweltwissenschaftler.

Vor fünf Jahren beschloss ich, Flugreisen zu unterlassen. Ich reise gerne und möchte mein Leben ungern verändern. Es wäre also bequem wenn ich sagen könnte, dass es für einen Forschenden unmöglich ist, das Fliegen aufzugeben. Aber das ist nicht der Fall. Es ist in der Tat möglich, weniger oder gar nicht zu fliegen – manchmal gibt es sogar Vorteile.

Erstens: praktische Lösungen finden

Oft reichen einfache praktische Maßnahmen aus, um Flugreisen zu vermeiden. Der Austausch von Informationen im Internet, insbesondere mit langjährigen Partnern, funktioniert gut. Ich habe online an Konferenzen teilgenommen, Interkontinentalreisen durch Reisen innerhalb Europas ersetzt und schaue mir häufig Präsentationen als Videocasts an. Seit vielen Jahren schreibe ich Publikationen mit Kollegen, die ich nie treffe, während die Feldarbeit in einem fremden Land durch lokale Forscher vor Ort organisiert werden kann. Zugegebenermaßen ist es jedoch schwierig, ohne ein persönliches Treffen von Grund auf Vertrauen für neue Partnerschaften aufzubauen.

Dank der Corona-Pause haben wir aber gelernt, wie gut Videokonferenz und andere virtuelle Medien funktionieren. Und wir haben eine Ahnung davon bekommen, was zusätzlich noch möglich wäre, wenn wir diese Technologien weiterentwickeln, wir besser mit diesen umzugehen lernen, und virtuelle Interaktionen selbstverständlicher Arbeitsalltag werden.

Zweitens: Die Kirschen in Nachbars Garten…

Unsere Hauptsorge in der Zeit als Studierende bestand darin, am Montagmorgen zu erkennen, dass wir am Samstagabend auf der falschen Party waren. Das ist etwas, was Ökonom*innen als Opportunitätskosten bezeichnen: die Kosten für verpasste Gelegenheiten. Wenn man sich nur auf das konzentriert, was man aufgibt, sieht man nicht alle Vorteile, die man hat, wenn man nicht fliegt. Ich habe Zeit gewonnen, und ich habe viele neue Dinge erlebt. Zum Beispiel durch das Zugfenster: Mit dem Nachtzug zu einer Beiratssitzung in Lissabon zu fahren, war eine charmante Erfahrung. Dadurch habe ich zu einer terranen Infrastruktur beigetragen: Nachtzüge in Europa.

Mit meinem terranen Experiment habe ich Zeit gespart – nicht Zeit verloren, weil ich Flugreisen abgesagt (bzw. virtuell ersetzt) habe und die Reisezeit vielfältig genutzt habe (statt in Flughäfen rumzusitzen). Ich kann im Zug sehr gut arbeiten, z.B. auch konzentriert an Texten schreiben. Terranes Reisen ist für mich immer auch beobachtendes Lernen als Grundlage für meine Forschung und Lehre.

Drittens: Mit den Füßen auf dem Boden bleiben

Fliegen beeinflusst die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben. Der Verzicht auf das Fliegen hat dazu geführt, dass sich meine Forschungsarbeit zunehmend auf reale, lokale Probleme in meinem lokalen Umfeld konzentriert. Das bedeutet, dass ich hier in der Schweiz mit Kollegen aus anderen Disziplinen und Praktikern zusammenarbeite. Und genau deshalb finde ich Nicht-Fliegen spannend – es spornt mich an, meine Rolle als Wissenschaftler bei der Lösung von Umweltproblemen zu überdenken.

Ich finde es ist besser, weniger zu fliegen und stattdessen echte, heikle Themen energischer anzugehen. Ich finde es besser, sich mit eigenen Problemen zu befassen, als Anderen die eigenen zu erklären – auch wenn es dafür keine Anerkennung gibt. Ich finde es besser, Wissenschaftler*innen aus weniger entwickelten Ländern auszubilden, statt uns als unverzichtbare Expert*innen zu betrachten.

Die eigentliche Herausforderung

Unsere Gesellschaft hat irgendwie vergessen, wie man über alternative Lebensweisen und soziale Utopien debattiert. Aus meiner Sicht sind (technische) Universitäten mitverantwortlich für die lähmende Diskussions- und Orientierungslosigkeit in unserer Gesellschaft sind. Denn hier spricht man lieber über technologische Durchbrüche als über sozialen Wandel.

Es ist unwahrscheinlich, dass neue Technologien den Flugverkehr in den nächsten Jahrzehnten klimaneutral machen werden. Technologische Innovationen und Digitalisierung könnten zwar Lösungen bieten, aber was wir dringend brauchen, sind soziale Innovationen: neue Lebensformen und eine ökologische Wirtschaft.

DIE ERFINDUNG DES FLIEGENS WAR EINE INNOVATION, UND DIE ERFINDUNG DES NICHTFLIEGENS WIRD AUCH EINE SEIN. INNOVATION GESCHIEHT NUR, WENN WIR VERSUCHEN, EXPERIMENTIEREN UND DURCH TUN LERNEN.

Wir treten in ein entscheidendes Jahrzehnt ein. Wenn wir die CO2-Emissionen, den Ressourcenverbrauch und das Artensterben radikal umkehren wollen, dann müssen wir über Systemveränderungen und die Folgen für unseren Alltag sprechen. In dreissig Jahren werden wir in einer grundlegend anderen Welt leben – noch haben wir Zeit, sie zu gestalten.

Ich habe mein terran-sein immer als ein Experiment geplant und kommuniziert. Dadurch habe ich auf die Chancen und das Neue statt auf den Verlust fokussiert und Scheitern und Toleranz zugelassen. Für mich ist das Nicht-Fliegen ein Selbstexperiment, um besser zu verstehen was Innovation in unserer Zeit ist.

Diese terrane Geschichte basiert auf den Blog-Artikeln, die Christoph Küffer im ETH Zukunftsblog und auf stay-grounded.org veröffentlicht hat. Die ETH Zürich hat eine Mobilitätsplattform initiiert, die sich u.a. gezielt mit dem Dilemma des Geschäftsflugverkehrs auseinandersetzen will. Der ‘Akademische Flugblog’ und ‘Weniger Flüge zu akademischen Konferenzen’ sind weitere Initiativen zur Reduktion des akademischen CO2-Fussabdrucks.