«Weit.» Die Geschichte von einem Weg um die Welt

Über Land und Wasser

JEMAND HAT MAL GESAGT, DIE WELT SEI GESCHRUMPFT. SIE SEI MITTLERWEILE SO KLEIN, DASS MAN SIE IN 48 STUNDEN MIT DEM FLUGZEUG UMRUNDEN KÖNNE.*

ICH ERINNERE MICH GUT AN DIE LETZTEN MOMENTE VOR UNSERER EINREISE NACH INDIEN. WIR HATTEN EBEN UNSEREN PAKISTANISCHEN FREUNDEN AUF WIEDERSEHEN GESAGT, HATTEN UNSERE RUCKSÄCKE WIEDER AUF DEN RÜCKEN GESCHWUNGEN, UM DEN LETZTEN METERN RICHTUNG INDIEN ENTGEGENZULAUFEN. FÜNF GROSSE BUCHSTABE STEHEN AM ENDE DER STRASSE AUF EINEM TORBOGEN: INDIA. ES ÜBERKOMMT MICH EIN GLÜCKSGEFÜHL. VOR ZEHN MONATEN UND VIELEN TAUSENDEN VON TERRANEN KILOMETERN HABEN WIR UNSERE HEIMAT VERLASSEN, UM UNS AUF DIE ERSTE GROSSE ETAPPE OHNE FLUGZEUG ZU MACHEN.

JETZT SIND WIR DA.

„Gwen, wir sind über Land nach Indien gekommen!“ Gänsehaut wandert mir über die Arme.

Wir haben gesehen, wie sich Landschaften langsam verändern. Wie aus Wald schleichend Wüste wird, aus Wüste Steppe, aus Steppe tropischer Wald. Aus Weite Berge, aus Bergen Gebirge und wieder die Weite. Wir haben Kulturen gespürt und gefühlt was sie miteinander verbindet, oft über politische Grenzen hinweg. Wir haben gesehen, wie Gesichter und traditionelle Kleider sich Stück für Stück verändern. Wir haben geschmeckt, wie Essen prisenweise schärfer oder milder wird, wie Ernte mit dem Klima reift. Wassermelonen in Kasachstan, Feigen in Georgien, Granatäpfel in Armenien, Orangen und Datteln im Iran, Mangos in Pakistan und Bananen in Indien. Ohne Flugzeug zu reisen heißt diese Zusammenhänge zu entdecken und einzuordnen.
Wir können nun besser verstehen was Indien und Deutschland voneinander unterscheidet. Nicht, weil wir beide Länder kennen, sondern weil wir wissen, was alles dazwischen liegt.

Als wir in Tokio auf dem abfahrenden Containerschiff stehen, bin ich froh um meine dicke sibirische Jacke. So kalt ist die Winternacht in Nordostasien. In Manzanillo (Mexiko) gehe ich fünfzehn Tage später in kurzer Hose und Unterhemd vom Schiff. Tropisch warm empfängt uns der neue Kontinent. Zwei Wochen hatte das Klima Zeit, um sich von einem Extrem in ein Anderes zu verwandeln. Es war schön, das langsam und Tag für Tag gespürt zu haben. Zu fühlen, dass Japan und Mexiko bei weitem keine Nachbarländer sind. Als wir von Bord gehen, bin ich froh, dass wir nicht in einem Zehn-Stunden-Flug das größte Meer der Erde überflogen haben. Und doch ist das Überland-Reisen nicht immer einfach. Es bedarf mehr Planung und Vorbereitung als ich noch vor der Reise gedacht hatte. Geschlossene Grenzen, auslaufende Visa oder komplizierte Einreisebestimmungen bringen uns nicht selten in die Nähe einer geografischen Sackgasse: Ich denke zurück an Zentralasien, als uns das Visum für Turkmenistan verweigert wird, als wir plötzlich 2.000 Kilometer Umweg durch die kasachische Wüste machen müssen. Oder Pakistan, das für uns wie eine Hürde auf dem Weg nach Indien liegt. Wie lange abwägen mussten und letztlich doch so froh sind dieses Land nicht überflogen zu haben!

WIR KÖNNEN NUN BESSER VERSTEHEN WAS INDIEN UND DEUTSCHLAND VONEINANDER UNTERSCHEIDET.
NICHT, WEIL WIR BEIDE LÄNDER KENNEN, SONDERN WEIL WIR WISSEN WAS DAZWISCHEN LIEGT.

Distanz ist eine Entscheidung

Die konsequente Überland-Weltumrundung ist für uns keine Challenge, wir wollen damit keinen Rekord aufstellen. Es ist vielmehr unser Bedürfnis, die Welt Stück für Stück zu erfahren. Wenn man so will haben wir dieses Prinzip dogmatisch gelebt, denn schon ein Kurzstreckenflug hätte dem ganzen Weg davor und danach den Zauber genommen. Vor der Reise haben wir uns gesagt, bevor wir fliegen, drehen wir lieber wieder um. Natürlich ist es auch eine große Portion Romantik, die auf dem Landweg mitschwingt und es für uns so reizvoll macht. Besonders als wir die letzten Kilometer von Spanien nach Hause laufen. Wir wollen die Strecke spüren, wollen selbst die Kraft aufbringen, uns und unsere Habseligkeiten Meter für Meter nach Hause zu bewegen. Ganz nah an der Natur, so wie die Menschen immer schon gereist sind.
In den letzten Tagen auf dem Heimweg kommt mir der Satz mit der geschrumpften Welt wieder in den Sinn. Ich finde, die Welt hat sich gar nicht so klein angefühlt.
Distanz hat viele Facetten. Distanz ist eine Entscheidung. Man misst Distanz nicht mehr nur in Metern, sondern auch in Minuten. Ich finde es schön zu wissen, dass die Welt nicht nur 48 Stunden sondern auch über drei Jahre groß sein kann.

*Die schnellste Weltumrundung eines Unterschallflugzeugs liegt 2013 bei 41 Stunden und sieben Minuten (Quelle: Gulfstreamnews.com / 2013)

Die Reise und der Film

Zu zweit zogen Patrick und Gwen im Frühling 2013 von Freiburg gen Osten los, um dreieinhalb Jahre und 97.000 Kilometer später zu dritt aus dem Westen wieder nach Hause zu kehren. Alles terran, ohne zu fliegen und mit einem kleinen Budget in der Tasche erkundeten sie die Welt, stets von Neugierde und Spontanität begleitet. Im Mittelpunkt der Reise standen dabei immer die unmittelbare Nähe zu den Menschen und der Natur. Gwen und Patrick bereisten per Anhalter Länder wie Tadschikistan, Georgien, Iran, Pakistan, China und die Mongolei. Von Japan ging es mit einem Frachtschiff nach Mexiko. Nach der Geburt von Sohn Bruno fuhren sie mit einem alten VW-Bus durch Mittelamerika. Als sie im Frühjahr 2016 nach einer Schiffspassage von Costa Rica nach Spanien wieder europäischen Boden unter den Füßen spürten, haben sie die Weltumrundung mit einem 1200 Kilometer Fußmarsch bis vor die Haustüre in Freiburg vollendet.

Nach Ihrer Rückkehr entsteht der Doku-Reisefilm «WEIT.» und wird ganz unerwartet zum Kino-Geheimtipp. Über 500.000 Menschen sehen den self-made Kinofilm und machen «WEIT.» zur mit Abstand erfolgreichsten Kinodokumentation 2017 in Deutschland.