Ziel- und planlos Richtung Balkan und zurück

Juni 2021. Zum ersten Mal starteten wir eine Velotour von zu Hause aus. Ausgangsorte für Touren zwischen neun und zwölf Monaten waren bisher Bishkek, Santiago de Chile, Vientiane, Christchurch, Anchorage; dieses Mal also der Stadtrand von Luzern. Rund fünf Monate lagen vor uns. Einzig die Richtung war klar. Und dass wir, wenn immer möglich, auf Neben- und Schotterstrassen unterwegs sein wollten.  

Wie soll ich eine solch lange Reise in einen Text von 800 – 1’000 Wörter packen? Welche Art von Bericht könnte den zahlreichen Eindrücken und Erlebnissen auch nur ansatzweise gerecht werden? Ich finde keine Antworten. Einfacher zu beantworten ist die Frage, was das terrane Reisen mit dem Velo ausmacht: Die unmittelbare Nähe zur Natur; die Möglichkeit, weit abseits unterwegs zu sein; viel Zeit und Musse (vor allem auf dem Sattel), sich über «Gott und die Welt» Gedanken zu machen, Gesehenes und Erlebtes zu verarbeiten und neue Eindrücke aufzunehmen. So entscheide ich mich, einige dieser persönlichen Eindrücke aus den besuchten Ländern zu beschreiben: 

Italien – Transitland 

Nach acht, mehrheitlich grauen Etappen auf den abwechslungsreichen Schweizer Velo- und Mountainbikerouten erreichten wir den Forcola di Livigno und durchquerten das nördliche Italien in zehn weiteren Etappen. So richtig Italien (oder italienisch) ist das ja nicht: Mendelpass. Karerpass. Obereggen… Der Einfluss von Österreich ist meist präsent – und meist nicht zu verachten: Kaiserschmarrn. Knödel. Apfelstrudel. Zudem: Hauptsache Berge. Da fühlen wir uns wohl.  

Passo Valle de Alpisella
Passo Valle de Alpisella

Slowenien – sauber und aufgeräumt 

Falls ich jemals überzeugt gewesen wäre, dass wir in der Schweiz Weltmeister in Sache Ordnung, Sauberkeit, Recycling und Organisation sowie Berge, klares Wasser und Käse sind, müsste ich spätestens jetzt meine Meinung revidieren. Selbst die Geranien strahlen bestens gepflegt von manchem Fenstersims.  

Ebenfalls bemerkenswert fand ich die jeweils vier Mülltonnen vor jedem Haus: Plastik und Glass, Papier und Karton, Kompost und alles andere. Aufgeräumter und schmucker geht es nicht.  

So zumindest – inklusive schönster und verlassener Natur sowie zahlreicher Berge – habe ich das nördliche Slowenien, wo wir rund 550 km zurückgelegt haben, erlebt.  

Kroatien – vergessenes «Hinterland» 

Die meisten (badebegeisterten) Touristen zieht es an die eindrückliche Küste mit lebendigen und historischen Städten wie Splitt oder Dubrovnik, in die kleinen, schmucken Fischerdörfer oder die zur Saison überfüllten Inseln. Dabei geht vergessen, wie ruhig, verlassen und schön das «Hinterland» ist. Dieses stimmt allerdings auch nachdenklich. Denkmäler für gefallene Soldaten aus den verschiedenen Kriegen häufen sich. In der Nähe der bosnischen Grenzen prägen hunderte zur Ruine gewordene Häuser die Landschaft. Was früher Landwirtschaftsgebiet gewesen sein muss, liegt heute brach und verlassen, da rund 250’000 ethnische Serben und Serbinnen aus der Krajina vertrieben wurden. Polizisten patrouillieren entlang von einsamen Schotterstrassen nahe der Grenze, die ja auch EU-Aussengrenze ist, um Flüchtlingen den Zugang zur EU zu verwehren.  

Da sind in Küstennähe aber auch diverse Bergketten mit mehreren Pässen, über die wir zwischen Meer und Landesinnerem hin- und herpendeln und die uns die Gedanken über den Krieg vorübergehend vergessen lassen. Zudem faszinieren uns die Nationalpärke, die Blicke aus der Höhe aufs Meer und die einsamen Strassen.

Bosnien und Herzegowina – auf den Spuren des Krieges 

Bosnien erwartet uns unmittelbar nach dem Grenzübertritt mit einem Nationalpark. Zwei Schotterstrassen führen zu seiner grössten Sehenswürdigkeit, dem Wasserfall Štrbački Buk. Ich bin beeindruckt! Beeindruckend sind auch die Gegensätze, die ich in Bosnien und Herzegowina empfinde. Es gibt Tage, da höre ich morgens um sechs Uhr gleichzeitig die Kirchenglocken läuten und den Muezzin rufen. Einen Kirchenturm und ein Minarett im gleichen Blickwinkel zu haben, sind keine Seltenheit. Das quirlige und lebendige Banja Luka lässt einen die spürbare Hoffnungslosigkeit der Jugend in anderen Landsteilen vergessen. In Sarajewo prägen moderne Wolkenkratzer sowie Gebäude mit Einschusslöchern der Kriegsbombardements das Stadtbild, wobei uns letzteres bereits seit Kroatien regelmässig begegnet. Das ethnische Misstrauen, immer wieder für politischen Profit frisch geschürt, gehört zum Alltag.  

Unzählige Stunden verbringen wir im Sattel durch scheinbares Niemandsland sowie kleine Weiler und weite Wälder – Zeit genug zum Sinnieren und die wunderbaren Landschaften und vielfältigen Erlebnisse in den Städten auf uns wirken zu lassen. 

Montenegro – schwarze Berge und mehr 

Obwohl Montenegro das kleinste von uns besuchte Land auf dieser Tour war, verbrachten wir dort schliesslich die meiste Zeit. Ganze sechs Wochen pedalten wir durch die Gegend, gingen wandern und joggen und machten in Kotor sogar kurzerhand eine Woche «Ferien vom Reisen». Mit drei Nationalpärken, unzähligen Nebenstrassen und Bergen kamen wir voll auf unsere Kosten, und auch die Tage an verschiedenen Seen oder am Meer waren nicht zu knapp. Die Vielfältigkeit auf so kleinem Raum mit so wenigen Menschen hat uns begeistert und in den Bann gezogen.  

Als wir die albanische Grenze erreichten, war es bereits Ende September. Eigentlich wollten wir im Oktober wieder in der Schweiz sein. Höchste Zeit also für einen Richtungswechsel gen Norden! 

Es wurde Anfang November, bis wir eines Abends durch den Meggerwald Richtung Haustüre rollten. Ein spezielles Gefühl. Fünf Monate waren wir unterwegs, lebten in den Tag hinein, wussten morgens meist nicht, wo wir abends übernachten, änderten innert Stunden Pläne und Himmelsrichtungen und je näher wir Luzern kamen, desto «heimeliger» fühlte es sich an. Selbst der für Luzern so bekannte Regen erwies uns bei der Ankunft frischfröhlich die Ehre!  

Und plötzlich waren wir da. Wieder zu Hause. Die nächste Reise vor uns. 

Danke Petra, für deine terrane Geschichte und Danke dafür, dass du sie mit uns teilst.